Er hatte im Garten einen ungenutzten Schafstall. Neulich ging er daran vorbei und sah in seiner Rückwand eine Tür, die ihm bisher noch nie aufgefallen war. Neugierig probierte er, ob sie sich öffnen ließ und tatsächlich, sie ging knarrend auf. Zu seiner Verblüffung, sah er dahinter aber nicht den Stall, sondern nichts als eine dunkle Türfüllung. Er fühlte hinein: die Tür war offen, sie führte in einen dunklen Raum. „Das ist der Raum der Stille.“, dachte er. Beim Meditieren suchte er schonmal einen imaginären „Raum der Stille“ auf. „Schon komisch, hier so konkret im Garten.“ Aber ihm fiel auch ein, dass er ja hier mit Haus und Garten einen Platz hatte, an dem er einfach da sein konnte, ohne Warum und Wozu. Er ging durch die Tür. Sein Fuß fand zwar keinen Boden, aber es war leicht, hineinzugehen. So, als ob sein Fuß trotzdem gehalten wäre. Er machte einen Schritt. Die Tür schloss sich knarrend und er befand sich in totaler Dunkelheit. Es gab keinen Boden, auf dem er gehen konnte. Seine Arme erreichten keine Wände oder irgendwelche Dinge. Er sah nichts und hörte nichts. Er schwebte frei in diesem Raum der Stille. Anfangs war er voller Angst. Er konnte mit seinen Bewegungen nichts erreichen und sah nichts, was auf ihn zukommen könnte. Mit der Erinnerung an seine meditativen Erfahrungen mit dem Raum der Stille wurde er ruhiger. Im Raum der Stille darf alles sein. Also auch er. Er fühlte sich unglaublich frei. Nichts engte ihn ein, nichts drückte ihn. Nichts bedrängte ihn.
Er schwebte frei im Raum der Stille.
War da nicht doch etwas, das ihn anzog? War da nicht doch ein Klang, der unmerklich lauter wurde? War da nicht doch Bewegung, Konnte es sein, dass er auf diesen Klang zuflog in kreisenden Bewegungen wie durch eine riesige Schnecke? Ja, sicher, so war es, auch wenn er noch immer nichts sah und nirgendwo anstieß. Es war wie ein ekstatischer Tanz, ein Flug durch das All. Eine überbordende Freude!
Dann hörte er es lauter und brausend: „ICH BIN!“. Und mit einem aufklingenden „JA!“ vereinte er sich mit diesem Klang. Alles begann und die Welt erblühte explodierend in Raum und Zeit. Und er war verbunden mit allem, was ist. Und frei. Und er spürte in seiner Brust das Vibrieren, wenn „ICH BIN!“ und „JA!“ ertönen und die Welt erblüht.
Er stand an der Rückwand des Stalles. Die Tür war zu. Er spürte das Vibrieren in seiner Brust.
Am Abend, nachdem ich diese auf eigenen Erfahrungen beruhende Geschichte aufgeschrieben hatte, traf ich mich mit guten Bekannten. Beim wunderbar weihnachtlich angerichteten Essen wurde mir etwas übel, ich spürte, dass nach zehnmonatiger Pause wieder ein Schwindelanfall kam. So saß ich kurze Zeit später in der Toilette und übergab mich. „Kein Wunder!“, dachte ich, „wenn du dich so weit von der Alltagsrealität entfernst und den sicheren Boden der notwendigen Verdrängung verlässt, dass dir das dann passiert!“. Die Gruppe umsorgte mich wohltuend. Nach einiger Zeit des Ausruhens war ich wieder an Deck.
Die Gruppe hörte sich ihre Lieblingsweihnachtslieder an und erzählte dazu, was sie ihnen bedeuten. Es waren sehr unterschiedliche Welten, die da zusammenkamen. Alles habe ich leider nicht mitbekommen, nur Klänge und Stimmungen. Als ich dabei war, war ein Spüren eines heiligen, unberührbaren Kerns dieses Festes, ein Sehnen nach der Begegnung mit dem Göttlichen deutlich.
Dass das nicht ungefährlich ist, habe ich mal wieder erfahren. Umso bewegender, dass wir an Weihnachten das unnahbare, aber auch unendlich faszinierend Göttliche, das unser wahres Selbst ist, in einem hilflosen Kind in armen Verhältnissen erkennen, dem wir uns mit unserer irdischen Liebe nähern können.
Also „Frohe Weihnachten!“
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